Digitale Beteiligung in Parlamenten: Vision und Realität?

In einem Punkt waren sich die Teilnehmer*innen auf dem Panel einig: 10 Jahre Liquid Democracy reichen offensichtlich nicht, damit die Digitale Demokratie in der deutschen Parlamentsarbeit zur Selbstverständlichkeit wird. Wir nehmen mit, dass das Ziel der digital-demokratischen Evolution noch längst nicht erreicht ist.

Als sich 2010 die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestages gründete und sich in Deutschland erstmalig Bürger*innen über die Adhocracy-Plattform enquetebeteiligung.de an der parlamentarischen Arbeit beteiligen konnten, war die Euphorie sehr groß. Schließlich war es die transparenteste, digitalste und partizipativste Kommission, die ein deutsches Parlament je hatte. Doch welche politischen Implikationen hatte die Enquete-Beteiligung? Nur 4 Jahre später wollte Schäuble den Abgeordneten Twitter verbieten. Auch wenn das im Publikum unserer Diskussion für Lacher gesorgt hat, der Eindruck bleibt: Von allem Fortschritt scheint nichts geblieben. Während einer Enquete-Kommission für künstliche Intelligenz in 2018 gab es keinerlei Beteiligungsmöglichkeit, sondern nur eine abschließende Bildergalerie.

Die Gäste aus dem Publikum hatten zwei Möglichkeiten sich an der Diskussion zu beteiligen. Zum einen konnte sie auf dem „Fishbowl-Stuhl“ Platz nehmen und sich dadurch aktiv in die Diskussion einbringen. Andererseits testeten wir zum ersten Mal unsere neue Web-App SpeakUp, womit Fragen sitzend via Smartphone gestellt wurden.

Fishbowl Diskussion zu digitaler Beteiligung in Parlamenten | CC-BY-SA 2.0

Es gibt heute zu wenig digitale Beteiligung

Mögliche Erklärungsversuche, warum es heute weniger digitale Beteiligung als noch vor 5 Jahren gibt, existieren zahlreich. Schließlich stand die Enquetebeteiligung sinnbildlich für den Anfang einer Revolution. Was ist passiert?

Katalin Gennburg aus dem Berliner Abgeordnetenhaus sah den hohen finanziellen sowie generellen „Mehraufwand“ für Abgeordnete, der durch die digitale Beteiligung von Bürger*innen entstand. Deshalb schrecke die Politik davor zurück. Sie selbst beziehe allerdings Meinungen von Bürger*innen via Twitter ein, zeigte sich in der Diskussion aber auch kritisch. Die Bereitschaft zur zivilgesellschaftlichen Beteiligung sei bei vielen Abgeordneten gegeben, es fehlten nur die richtigen Formate. Auch Yannick Haan, der in der SPD tätig ist, warf die Frage auf: „Kann man Parlamentsabgeordneten eine Online-Beteiligung überhaupt zumuten?“. Die Frage nach der Komplexität eines Beteiligungsprozesses müsse logischerweise gestellt werden. Niklas Treutner betreute den Prozess der Enquetebeteiligung als Entwickler und bestätigte daraufhin, dass tatsächlich die hohe Komplexität bei vielen Mitgliedern des deutschen Bundestages auf Skepsis stieß.

Eine mögliche Antwort auf starre Parteistrukturen stellt die Partei Demokratie in Bewegung dar, die Bianca Praetorius mitgründete und für welche sie gerade im Europawahlkampf kandidiert. Was dort Selbstverständlichkeit ist, ist für viele andere Parteien noch Science-Fiction: Das Parteiprogramm wird mittels Online-Beteiligung in einem offenen Prozess von den Mitgliedern bestimmt. Auch der Fishbowl-Stuhl wird zum ersten Mal genutzt. Marius Krüger von der App Democracy Deutschland wirft die These in die Diskussion: „Es gibt heute gar nicht weniger, sondern mehr digitale Beteiligung als je zuvor“. Dafür würden die vierzigtausend Nutzer*innen seiner App sprechen, denen eine Stimme im deutschen Bundestag verliehen wird.

Über SpeakUp konnte sich das Publikum in die Diskussion einbringen | CC-BY-SA 2.0

Beteiligungs-Beiträge ernst nehmen

Die wissenschaftliche Auswertung der Enquetebeteiligung hat ergeben, dass mehr als 80% der Nutzer*innen mit der Rückmeldung unzufrieden waren. Warum wurden die Beiträge von Politiker*innen nicht ausreichend berücksichtigt? Für Niklas waren dafür eindeutig die Vorbehalte der Politik verantwortlich, die durch das anfängliche Narrativ einer digital-politischen Revolution ausgelöst wurden. Hingegen sei die Relevanz der traditionellen Parteien und Ortsvereine laut Yannick nicht zu unterschätzen. Vielmehr sei eine Verknüpfung mit neuen digitalen Mitteln der Teilhabe notwendig. Es stellte sich jedoch heraus, dass eine moderne Partei wie Demokratie in Bewegung keineswegs als „Hipster-Partei“ zu bezeichnen sei. Bianca entgegnete: „Demokratie in Bewegung zieht sehr viele ältere Menschen an“. In einem Punkt waren sich die Beteiligten einig: Twitter ist als Beteiligungstool ungeeignet. Stattdessen braucht es Beteiligungsplattformen, die gemeinnützig gestaltet und Open-Source betrieben werden.


Digitale Beteiligung stellt Machtstrukturen in Frage

Endlich ist es soweit! Die erste Frage über SpeakUp fließt in die Diskussion ein: „Durch Bürgerbeteiligung werden traditionelle Machtstrukturen in Frage gestellt. Wie kann man die Angst vor der Politik davor abwehren?“ Der offensichtliche Grund, warum die digitale Beteiligung in Parlamenten bislang nicht über einen Twitter-Account hinausreichte, sei, dass die Machtstrukturen von Parteien und Fraktionsvorsitzenden herausgefordert würden. Ein Beispiel dafür stellten die Berliner Leitlinien zur Bürgerbeteiligung dar, die demnächst verbindlich festgelegt werden sollen. Katalin ist bei dem Prozess stark involviert und forderte: „Ich will, dass wir die Macht und das Herrschaftswissen umverteilen“. Dies funktionierte heute schon bei Bebauungsplänen recht gut und könne erweitert werden. Auch wenn „es faktisch keine Macht des 18. Sachverständigen bei der damaligen Enquetebeteiligung gab“, konstatierte Niklas, lohne es sich trotzdem kleinschrittig Beteiligungsprojekte zu initiieren. Der Druck auf die Politik müsse erhöht werden, zu mächtigen Großkonzernen wie Facebook und Twitter Alternativen entwickelt werden.

Yannick Haan und Katalin Gennburg | CC-BY-SA 2.0

Wann wird die digitale Bürgerbeteiligung endlich verfassungsrechtlich verpflichtend?

„Brauchen wir eine Verfassungsänderung für mehr Repräsentation von Bürger*innen im Parlament“? Das war die nächste Frage, die das Publikum über SpeakUp priorisierte. Während auf der einen Seite Yannick argumentierte, dass wir insbesondere die Repräsentation der jüngeren Bevölkerung im deutschen Bundestag und den Parteien verloren hätten, ergänzte Bianca, dass wir eine Verfassungsänderung dringend benötigen würden. Andernfalls steckten wir in der „algorithmischen Filterblase“ fest, aus der eine Flucht nur schwerlich möglich wäre. Demgegenüber äußerte Katalin ihre Bedenken. Sie sehe die Bevölkerung als zu dynamisch an, als dass eine Änderung der repräsentativen Verhältnisse verfassungsrechtlich lösbar wäre. Viel wichtiger sei es, eine Kompatibilität zwischen „einer geilen Oberfläche und einer guten Demokratie herzustellen“. Große Beratungsfirmen könnten höchstens ersteres erfüllen. Die Ansage ist eindeutig!

An diesem Abend ist deutlich geworden, dass wir mehr als 10 Jahre brauchen. Wir stehen erst am Anfang! Beteiligung ist mühsam, funktioniert kleinschrittig und ist oftmals sehr kostspielig. Auf die abschließende Frage, was wir denn tun müssten, damit die Enquetebeteiligung 2.0 endlich Realität würde, antwortete Niklas Treutner mit deutlichen Worten: „Die Evolution ist nicht aufzuhalten“. Wir nehmen diese Worte sehr gerne mit in die nächsten zehn Jahre, die wir damit verbringen werden weiter an gemeinnütziger, besserer und digitaler Beteiligung zu arbeiten und Alternativen zu entwickeln.


Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass Bianca Praetorius spontan für die leider kurzfristig erkrankte Dorothee Vogt einsprang. Vielen Dank dafür!