14. Dezember 2018

Liquid: Research – Ein Update aus der Forschung

Liquid Democracy in Deutschland blickt auf eine mehr als zehnjährige Geschichte zurück. Das erstmalige Forschungstreffen Liquid: Research bot uns und allen Anwesenden die Möglichkeit am 21. November 2018 in unserem Berliner Büro diese Zeit aus wissenschaftlicher Perspektive Revue passieren zu lassen und eine Zwischenbilanz zu ziehen. Eine gute Nachricht: Liquid Democracy lebt!

Anja Adler | CC BY 2.0 - Liquid Democracy e.V.

Liquid Democracy lebt! 

Anja Adler machte den Anfang mit der Vorstellung ihres neuen Buches: „Liquid Democracy in Deutschland“, das auf ihrer Dissertation aus dem Jahre 2016 basiert. Mit der Frage „Operation gelungen, Patient tot?“ zitierte sie darin nicht nur eine ihrer Interviewpartner*innen, sondern verdeutlichte auch, dass mit dem Scheitern der Piratenpartei in Deutschland, nicht gleichzeitig das Scheitern des Konzeptes Liquid Democracy einhergehe. Um das zu unterstreichen, machte sie zwei wichtige Punkte: Erstens, der Entstehungsprozess der Software – der eine offene und zugängliche Infrastruktur brauche – sei ausschlaggebend dafür, wie erfolgreich sie später in der Praxis wird. Dies ist anhand der drei Phasen: Do-ocracy, Transformation und Software as a service (SAAS) zu verstehen. Gleichzeitig stelle die Entwicklung von Softwares eine Form der politischen Beteiligung dar, weil sie „die Infrastruktur für genau diese aufbaut und Argumente in Form von Code einbringt“. Das bedeutet, dass Programmierer*innen Entscheidungen darüber treffen wie Bürger*innen beteiligt werden und deshalb das Programmieren als Meinungsäußerung zu verstehen sei.

Die 3 Phasen der Liquid Democracy | Quelle: Abbildung von Anja Adler

Zweitens, Liquid Democracy stehe zwar nicht für eine ausgearbeitet Demokratietheorie, bezeichne jedoch nach heutigem Verständnis eine „Beteiligungsinfrastruktur“, da einzelne Verfahren oder Technologien die Erwartungen an die Demokratie nicht erfüllen könnten. Demzufolge sei der Patient keineswegs tot. Vielmehr analysiert Anja Adler sehr präzise, dass der „anfängliche Hype um Liquid Democracy heute auf einem Niveau der sinnvollen Anwendung angekommen ist“. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da während der Transformationsphase keineswegs klar war, wohin sie sich entwickeln würde.

Anja Alder resümierte, dass Liquid Democracy durch die Anwendungsfälle ein gelungenes politisches Experiment sei und auch bleiben könnte, weil sich Gelingensbedingungen und Herausforderungen unter realen Bedingungen analysieren ließen. Ein Beispiel dafür stelle die zentrale Plattform für Bürgerbeteiligung der Hauptstadt: meinBerlin dar. Ihr zufolge komme insbesondere der wissenschaftlichen Auswertung von Beteiligungsprozessen eine enorme Wichtigkeit zu, um sie stetig zu verbessern und für weitere Projekte anschlussfähig zu machen. Ein Beispiel wie das funktionieren kann, lieferte an diesem Abend Katharina Esau von der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.

Katharina Esau | CC BY 2.0 - Liquid Democracy e.V.

Die Qualität von politischen Online-Diskussionen

Katharina Esau beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Qualität von Online-Diskursen und interessiert sich besonders für die Frage: Was verhindert oder unterstützt „Zuhören“ in politischen Online-Diskussionen? Als normativer Anspruch an eine Online-Diskussion gelte in erster Linie „Gleichheit“, sprich das der Zugang für möglichst viele ermöglicht und die Diskussion nicht von einigen wenigen dominiert wird. Damit eine Online-Diskussion als qualitativ gut zu bezeichnen sei, müsse sie von einem wechselseitigen Austausch von Argumenten (Reziprozität) geprägt sein. Dem Zuhören widmete Katharina Esau dabei ihre besondere Aufmerksamkeit.

Anhand des von uns technisch betreuten Online-Prozesses zum Tempelhofer Feld, entwickelte sie mittels fünf Codierer*innen und einer Analyse von 1308 Kommentaren die folgenden Anforderungen, damit einer Person online zugehört wird: 

Ergebnisse der Studie zur Reziprozität in Online-Diskussionen | Quelle: Abbildung von Katharina Esau

Es fiel auf, dass denjenigen Nutzer*innen die Argumente, Fragen und kritische Kommentare in die Diskussion einbrachten, besonders zugehört wurde. Auch wenn diese Ergebnisse sich schließlich auf ein einzelnes Beteiligungsverfahren konzentrierten, ließe sich dennoch festhalten, dass noch viel zu tun sei, um die Qualität von Online-Diskussionen auf ein angemessenes Niveau zu bringen - insbesondere vor dem Hintergrund der Geschlechterungleichheit. Es zeigte sich, dass Forschung und Praxis weiterhin zusammenarbeiten sollten, um E-Partizipation stetig zu verbessern.

v.l.n.r. Anja Adler, Katharina Esau, Moritz Ritter, Gast aus dem Publikum | CC BY 2.0 - Liquid Democracy e.V.

Hoffnung für Liquid Democracy

Die anschließende Podiumsdiskussion mit Anja Adler und Katharina Esau wurde von Moritz Ritter moderiert und bot Raum für Diskussionen mit zahlreichen Beiträgen aus dem Publikum. Während auf der einen Seite (Ex)-Pirat*innen die Frage einbrachten, ob es denn Grund zum Optimismus für die Zukunft der Liquid Democracy in Deutschland gebe, warfen andere Teilnehmende aus dem Publikum die Frage auf: Welche Instrumente eignen sich für die digitale Demokratie?

Der Mangel an post-Piratenparteien in Deutschland, die die repräsentative Demokratie verbessern möchten - sowie die Informationsflut von Facebook und Twitter - gaben einigen Gästen aus dem Publikum sichtlich Grund zur Sorge um die Zukunft der Liquid Democracy. Anja Adler wies jedoch darauf hin, dass einige nicht-kommerzielle Lösungen durchaus Hoffnung für die Liquid Democracy geben würden. So biete beispielsweise die experimentelle Online-Bürgerbeteiligung wie sie derzeit stark in Deutschland praktiziert würde oder die Open-Source App Loomio einen sicheren Ort, um Diskussionen zu führen und Entscheidungen außerhalb der sozialen Medien zu treffen. Außerdem sehe sie in Projekten wie Aula große Potenziale, jungen Menschen digitale demokratische Mitbestimmung beizubringen: „Digitale Partizipation übt sich früh eben am besten“.

v.l.n.r. Anja Adler, Katharina Esau, Moritz Ritter, Gast aus dem Publikum | CC BY 2.0 - Liquid Democracy e.V.

Daneben wurde intensiv der Frage nachgegangen, welche Instrumente und damit Interessen hinter der Entwicklung von Plattformen stehen. Katharina Esau kritisierte zunächst das Interesse von Großkonzernen an Plattformen wie Facebook, das in erster Linie kommerzieller Natur sei und dies wurde auch von Anja Adler untermauert, nämlich dass „sie deshalb überhaupt nicht an Diskussionen interessiert sind, sondern an Profit“. Die beiden Wissenschaftler*innen waren sich einig, dass Open-Source Beteiligungssoftwares, wie zum Beispiel Adhocracy, bessere Bedingungen bieten, konstruktive Diskussionen zu ermöglichen und auch eine Moderation der Beiträge zur Verfügung zu stellen. 

Insgesamt konnte an diesem Abend festgestellt werden, dass der Patient Liquid Democracy lebendig ist. Nachdem der anfängliche Hype im Zuge der Piratenpartei vorüber und die Transformation zur sinnvollen Anwendung überstanden ist, hat sich gezeigt, dass es eine Reihe von Projekten und Anwendungen gibt, die Hoffnung für die Zukunft der digitalen politischen Beteiligung geben. Auch stellt die enge Verknüpfung zwischen Forschung und Praxis und die dadurch ermöglichte Auswertung von Beteiligungsprozessen ein Ausdruck dieser Lebendigkeit dar.



Wir bedanken uns an dieser Stelle bei Katharina Esau und Anja Adler für zwei sehr aufschlussreiche und spannende Präsentationen und eine sehr fruchtbare Podiumsdiskussion. Danke, dass Ihr so zahlreich gekommen seid!

Wenn ihr neugierig seid und nach mehr Informationen zu den Forschungsthemen von Anja und Katharina sucht, schaut doch einfach in ihre Präsentationen rein. Diese findet Ihr hier.


Das Buch Liquid Democracy in Deutschland von Anja Adler gibt es jetzt auch hier als Open Access Version im Transcript Verlag.