26. Oktober 2018

Liquid Democracy in Deutschland - Geschichte, Verständnis und Ausblick

Das Konzept der Liquid Democracy – was anfangs als Allheilmittel gegen Politik-verdrossenheit gehandelt und später dann als gescheitert betitelt wurde – steht als Prototyp für viele Entwicklungen, die das Internet in den letzten zehn Jahre geprägt hat. Mit der Frage: „Liquid Democracy, eine Geschichte des Scheiterns?“ zeichnet Anja Adler in ihrem Buch nicht nur die Entstehungsgeschichte der liquiden Demokratie als Experiment politischer Willensbildung in Deutschland nach. Vielmehr analysiert sie auch die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs zwischen Demokratie und Software und blickt in die Zukunft. Wir finden, dass es sich lohnt das Buch zu lesen und es an alle gerichtet ist, die neugierig sind mehr darüber zu erfahren, was sich hinter der Liquid Democracy versteckt und überhaupt die Beweggründe für die Entwicklung von Partizipationssoftware sind.

Anja Adler (2018): Liquid Democracy in Deutschland (source: http://anjaadler.de/index.html)

Die analytische Arbeit des Buches setzt sich aus einer Datenauswertung von Blogeinträge, Webseiten und Interviews mit 25 Liquid-Democracy-Entwickler*innen zusammen und bezieht sich auf zwei Liquid-Vereine: der Interaktive Demokratie e.V. und Liquid Democracy e.V.. Der Begriff der Liquid Democracy beschreibt heute einen „Möglichkeitsraum“ und zielt darauf ab, direkte und deliberative Elemente im politischen System zu etablieren und die repräsentative Demokratie zu ergänzen. Sie stellt fest, dass sich der Begriff mittlerweile für innovative und professionelle Beteiligungsinfrastruktur etabliert hat und über die Jahre weg vom Element der Stimmendelegation hin zu mehr digitalen Werkzeugen diskursiver Natur entwickelt hat. Im Vordergrund steht es daher, die herkömmlichen politischen Institutionen und Verfahren, zugunsten der Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten durch neue Medien zu erweitern und zu „verflüssigen“. Die Software-Lösung Adhocracy steht heute als Resultat einer – wie Anja Adler sie nennt – „politischen Professionalisierung“ dar.



"Ein Verständnis von Liquid Democracy als Beteiligungsinfrastruktur, mithilfe derer man sich in Form politischer Experimente einer Beteiligungsdemokratie annähert, weist in die richtige Richtung." (Adler 2018: 192)



Adler schenkt der Selbstwahrnehmung der Akteur*innen, die die partizipative Software entwickeln, besondere Aufmerksamkeit. Anhand der Reflexive Grounded Theory Methode (RGTM) hat sich Adler dem Thema der Liquid Democracy und den Programmierer*innen als politische Akteur*innen gewidmet. So stellt sie fest, dass die Entwicklung von Software, welche das Ergebnis aus einer gemeinschaftlichen und sozialen Anstrengung darstellt, zwar nicht politisch sein muss, sich aber durchaus in ihrer Kulturgeschichte zunehmend politisiert hat. Dazu beigetragen hat sowohl das Bild des „Hackers“, als auch die Freie und Open-Source-Bewegung. Somit ist das Programmieren beides: Wissenschaft und Kunst. Die Haltung die dabei eingenommen wird, ist eine durchaus kritische gegenüber dem Status quo des politischen Systems.

Ihrer Arbeit liegen drei Grundannahmen zugrunde, die sie investigativ überprüft. Erstens, dass Technologie und Demokratieverständnis sich gegenseitig bedingen. Wie sich zeigt, entwickelt sich dieses Verständnis der Liquid-Entwickler*innen aus einem Zusammenspiel zwischen Software und politischer Praxis. Beispielhaft dafür steht die Beteiligungsplattform meinBerlin, wo es die Bedürfnisse der Kund*innen und Nutzer*innen sind, die die Weiterentwicklung bestimmen. Akademischen Diskursen bzw. wissenschaftlichen Konzepten werden deshalb ein indirekter Einfluss beigemessen und finden, so Adler, weitestgehend durch ihre Verbreitung im Netz Einklang in die Entwicklung von Beteiligungssoftware.



"[...] Demokratie- und Technologieverständnis [entwickeln sich] durch eine stetige Auseinandersetzung mit den in der Praxis gemachten Erfahrungen weiter." (Adler 2018: 188)



Die zweite Annahme lautet: Liquid Democracy ist die Realisierung einer demokratietheoretischen Idealvorstellung. Die Analyse verdeutlicht, dass es nicht die eine Definition einer Idealvorstellung gibt, die es zu realisieren gäbe, sondern zahlreiche. Während die einen Akteur*innen das Prinzip Delegated Voting mit der Liquid Democracy gleichsetzen, sehen andere hingegen diese als digitale Beteiligungsinfrastruktur und Grundlage für ganz unterschiedliche Verfahren an. Anja Adler zufolge handelt es sich bei Liquid Democracy nicht um demokratische Theorien nach wissenschaftlichen Standards, sondern um einen pragmatischen Zusammenhang zwischen Konzeption und Praxis, Entwicklung und Anpassung. 

Als dritte Annahme wird von der Autorin überprüft, inwiefern das Programmieren von Beteiligungssoftware als politische Handlung betrachtet werden kann und umgesetzt wird. Motiviert durch die gemeinsame Wertebasis einer frei zugänglichen Software, sind die Entwickler*innen besonders intrinsisch am gemeinschaftlichen Arbeiten orientiert. Die Tatsache, dass sich viele als politische Neulinge entpuppen, mindert jedoch nicht ihr Selbstverständnis als „critical maker“, die sich gleichwohl kritisch mit den dahinterliegenden Prozessen von Software auseinandersetzen. Die Ausübung von Kritik am politischen System gehört genauso zur Online-Beteiligung, wie die technischen Fähigkeiten des Codierens.  

Als abschließende Antwort auf die Frage: Operation gelungen, Patient tot? heißt es, dass in der jetzigen Phase der Software als Service, in der der anfängliche Hype-Zyklus von einem Kurs der Produktivität abgelöst wurde, besonders Adhocracy als Beteiligungsinfrastruktur Zukunftspotenzial birgt, sich in unterschiedlichen Gesellschafts- und Politikbereichen zu etablieren. Die folgenden zwei Forschungserkenntnisse lassen sich auch als Empfehlungen in Zeiten der Professionaliserung für die Zukunft der Liquid Democracy verstehen. Zum einen sollte Software nicht ausschließlich an Kunden-Bedürfnissen orientiert sein, sondern in erster Linie im Sinne der Nutzer*innen gestaltet werden. Gleichzeitig soll der gesellschaftskritische Blick auf das politische System, den die Liquid Democracy auszeichnet, beibehalten werden.



"Sie [...] können durch ihre Fähigkeiten dazu beitragen, die Interessen der Bürgerinnen [...] besser abzubilden, um mehr und vor allem qualitativ bessere Beteiligung zu ermöglichen." (Adler 2018: 198)



Anja Adlers Forschungsarbeit leistet einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der kulturellen Entwicklungen der Liquid Democracy sowie zur Partizipations- und Beteiligungsforschung. Sie hat es geschafft, ein sehr lebendiges und zukunftstaugliches Portrait darüber aufzuzeigen, welche Einstellungen und Visionen die Liquid-Democracy-Entwickler*innen vertreten und zugleich einen kritischen Blick gegenüber der wachsenden Effizienz und "Verberuflichung" von Online-Beteiligung bewahrt. In jedem Fall ist "Liquid Democracy in Deutschland" ein gelungenes Buch, weil Anja Adler sich authentisch den Liquid-Entwickler*innen annähert und sich in ihre Lage als Systemkritiker*innen versetzen kann. Es können nicht nur diejenigen etwas von ihr lernen, die wissen möchten, wie sich Demokratie und Software gegenseitig beeinflussen, sondern auch die Entwickler*innen selbst. 


 

Hier könnt Ihr das Buch von Anja Adler Liquid Democracy in Deutschland, das in diesem Jahr im Transcript-Verlag erschienen ist, käuflich erwerben.

2018-06-20; 254 Seiten, 29,99€; ISBN: 978-3-8376-4260-5


Außerdem, freuen wir uns sehr, Anja Adler am 21. November 2018 von 18:00-20:00 Uhr in unserem Berliner Büro zur Buchvorstellung begrüßen zu dürfen. Ihr seid herzlich eingeladen, an dem Event Liquid: Research teilzunehmen, zuzuhören und mitzudiskutieren! Da unsere Kapazitäten begrenzt sind, bitten wir Euch um eine verbindliche Rückmeldung per E-Mail (an l.thueer@liqd.net) oder als Zusage zu der Facebook-Veranstaltung. Auch findet Ihr diese Informationen auf unserem Blog.