Demokratische Beteiligung, das bedeutet für viele in erster Linie der Gang zur Wahlurne. Doch nicht alle Bürger*innen gehen wählen und die, die es tun, sind oft nicht ausreichend über die anstehenden Themen informiert. Es fehlen Möglichkeiten zur Information und Meinungsbildung durch Austausch, denn wenn wir über Politik diskutieren, dann oft nur mit Menschen, die ähnliche Ansichten haben wie wir, was durch soziale Medien nur noch verstärkt wird. Und es fehlt an Beteiligung, die über Wahlen hinausgeht. Denn bestimmte Gruppen sind von Wahlen von vornherein ausgeschlossen. Dadurch fehlt es politischen Entscheidungen an Legitimität und Nachvollziehbarkeit und es drängt sich die Frage auf, ob es bei demokratischen Prozessen eigentlich primär um einen Wettbewerb von Repräsentant*innen um Stimmen gehen sollte oder um Diskussion, Auseinandersetzung mit Argumenten und die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen. So (oder so ähnlich) argumentieren Befürworter*innen von deliberativer Demokratie (Fishkin 2011, Chappell 2012 in Alcántara et al. 2016).
Deliberative Demokratie
Deliberation und Deliberative Demokratie
Deliberation kommt von dem lateinischen Begriff deliberatio (=Überlegung, Beratung). Sie bezeichnet den gemeinsamen Austausch von Argumenten, Überlegungen, Sichtweisen und Informationen und der Reflexion von eigenen Präferenzen und Werten in Bezug auf ein Thema von öffentlichem Interesse. Deliberation sollte unter bestimmten, idealen Bedingungen erfolgen, wie Gleichheit in der Partizipation, gegenseitigem Respekt, der Abwesenheit von Zwang und der Offenheit des Verfahrens.
Das Ziel von Deliberation ist es, bessere Entscheidungen unter Einbezug verschiedener Sichtweisen zu treffen – schlussendlich soll das „bessere“ Argument überzeugen und so eine verständnisorientierte Entscheidung erreicht werden. Das Ergebnis von guter Deliberation kann ein Konsens, aber auch das Aufzeigen verschiedener Positionen und die Beleuchtung von Konflikten sein. Deliberative Demokratie bezeichnet im weitesten Sinne eine demokratische Praxis, in der Deliberation eine zentrale Rolle spielt (Bächtiger et al. 2018) und ist eines der Kernelemente von Liquid Democracy .
Deliberative Demokratie schafft einen Rahmen, der einen fairen und transparenten Austausch ermöglicht, und in dem Einzelne sich eigene Urteile unter Einbezug verschiedener Sichtweisen bilden können und gleichzeitig durch Vermittlung gemeinsam an Lösungen gearbeitet werden kann. Das ist dadurch möglich, dass Interessen und Begründungen und die damit verbunden Werte und Vorstellungen beleuchtet, reflektiert und auch geändert werden können. Das heißt, es geht nicht nur darum, diese abzufragen und gegeneinander abzustimmen, sondern Verständigung und Klärung zwischen verschiedenen Positionen zu erreichen (Alcántara et al. 2016).
Deliberative Prozesse sind somit gesprächszentriert und nicht auf das Abstimmen oder Wählen fokussiert. Dabei sind diese Verfahren nicht unbedingt gegensätzlich, sondern können in unterschiedlichen Phasen von demokratischer Entscheidungsfindung sinnvoll sein. Deliberation kann beispielsweise als Prozess vor der Abstimmung stattfinden und Bürger*innen dabei unterstützen, sich besser zu informieren und verschiedene Positionen zu verstehen und gemeinsam auszuhandeln (Bächtiger et al. 2018). Gleichzeitig wird deliberative Demokratie aber auch als politische Forderung formuliert und als Vorschlag für die Gestaltung politischer Systeme oder für deren Erweiterung angebracht, die einen stärkeren Fokus auf gesprächsorientierte Verfahren legt (Steenbergen et al. 2003 in Alcántara et al. 2016).
Das Ideal der Deliberation
Was genau gute Deliberation ausmacht, was ihr Ziel und ihre Grundsätze sind und wie deliberative Demokratie wirken sollte, darüber gibt es verschiedene Meinungen und Herleitungen. Die Ursprünge von deliberativer Demokratie werden oft im antiken Griechenland verordnet. Heutige Theoretiker*innen beziehen sich besonders häufig auf die Werke von Jürgen Habermas und John Rawls. Insbesondere Habermas Konzepte der „idealen Sprechsituation“ und der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ nehmen eine zentrale Rolle in der Theorie und Praxis deliberativer Verfahren ein. Die „ideale Sprechsituation“ beschreibt die normativen Bedingungen reiner Argumentation, die oft als formelle Voraussetzung für Deliberation genannt wird. In ihr darf es keinen Zwang, Manipulation oder Täuschung geben und alle müssen die gleichen Möglichkeiten haben teilzunehmen und gehört zu werden (Chambers 2018). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, besteht der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“. Dadurch, dass die Teilnehmer*innen der Debatte nicht von Manipulation, Machtausübung und Zwängen geleitet werden, wird der Diskurs von rein rationaler und vernünftiger Argumentation bestimmt und folgt letztlich dem „besseren Argument“ (Habermas 1971). Dies ist mit der Idee verknüpft, dass unter den gegebenen Umständen der reinen Argumentation für die Gleichheit der Teilnehmer*innen, Respekt und Gemeinwohlorientierung gesorgt ist und zu einem Konsens führt. Obwohl die „ideale Sprechsituation“ als Konzept stark idealisiert und kaum komplett umsetzbar ist, ist sie für viele Modelle und Verfahren deliberativer Demokratie eine wichtige Orientierung.
Kritik am Konzept der Deliberativen Demokratie
Die idealisierte Vorstellung von Deliberation wurde vielfach an deliberativer Demokratie kritisiert. Sie verkenne die Machtstrukturen und Konflikte politischer Prozesse und Gruppendynamiken. Zudem gehe sie von einer hohen Qualität der Beiträge und Auseinandersetzungen aus. Ein weiterer Hauptkritikpunkt ist, dass Ungleichheiten in der deliberativen Demokratie nicht vermindert, sondern reproduziert würden. Gesellschaftliche Machtdynamiken würden in deliberativen Verfahren weiterwirken, indem z.B. Menschen, die besser gebildet und über mehr Ressourcen verfügen, große Vorteile haben. Der Fokus auf rationale Argumentation schließe besonders Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören, und bestimmte Sprechweisen, die von dem Ideal abzuweichen scheinen, aus. Zudem würde in deliberativen Verfahren Konsens erzwungen werden, und so die Vielfalt der Meinungen und der Konflikt, der zu einer pluralen Gesellschaft gehöre, unterdrückt werden. Viele dieser Kritikpunkte wurden in Weiterentwicklungen der deliberativen Demokratie aufgenommen (Bächtiger et al. 2018). Theoretiker*innen einer zweiten oder „kritischeren“ Generation ergänzten die Bedingungen für gelingende Deliberation oder formulierte sie neu (Dryzek 2000). So sollen beispielsweise anstelle von Gleichheit der Teilnehmenden, Inklusion, Respekt und gleiche Möglichkeiten zur Einflussnahme angestrebt werden. Anstatt von reiner, rationaler Argumentation sollen zusätzlich auch andere Ausdrucksweisen, wie z.B. Erzählungen, Beachtung finden. Und anstelle von Konsens, können auch die Beleuchtung von Konflikten das Ziel von Deliberation sein (Bächtiger et al. 2018).
Die Idee der Deliberativen Demokratie wird durch viele Stimmen weiterentwickelt, ausprobiert und neu gedacht. Die Wege, um diese Fragen weiter zu diskutieren, liefert sie glücklicherweise selbst.
Zuletzt aktualisiert am 24.02.2021
Quellen
- Alcántara, S., Bach, N., Kuhn, R., & Ullrich, P. (2016). Demokratietheorie und Partizipationspraxis: Analyse und Anwendungspotentiale deliberativer Verfahren. Springer Fachmedien Wiesbaden. Link zum Text
- Bächtiger, A., Dryzek, J. S., Mansbridge, J., & Warren, M. (2018). Deliberative Democracy: An Introduction. In A. Bächtiger, J. S. Dryzek, J. Mansbridge, & M. Warren (Hrsg.), The Oxford Handbook of Deliberative Democracy (S. xxii–32). Oxford University Press. Link zum Text
- Chambers, S. (2018). The Philosophic Origins of Deliberative Ideals. In A. Bächtiger, J. S. Dryzek, J. Mansbridge, & M. Warren (Hrsg.), The Oxford Handbook of Deliberative Democracy (S. 54–69). Oxford University Press. Link zum Text
- Chappell, Z. (2012). Deliberative Democracy: A Critical Introduction. Palgrave Macmillan.
- Diebold, C., & Wortmann, M. (2020). Deliberative democracy: More than just voting. Bertelsmann Stiftung, Shortcut 1. Link zum PDF
- Dryzek, J. S. (2002). Deliberative Democracy and Beyond: Liberals, Critics, Contestations. Oxford University Press.
- Fishkin, J. S. (2011). When the People Speak: Deliberative Democracy and Public Consultation. Oxford University Press.
- Habermas, J. (1971). Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In J. Habermas & N. Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft und Sozialtechnologie. Suhrkamp.
- Steenbergen, M., Bächtiger, A., Spörndli, M., & Steiner, J. (2003). Measuring Political Deliberation: A Discourse Quality. Palgrave Macmillan, 21–48.
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