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Liquid Democracy: Theorie & Vision | Artikel

Vision und Konzept von Liquid Democracy

Ein Überblick über die Ideen und Besonderheiten hinter Liquid Democracy
Auf der Illustration ist vor einem lilagrünen Hintergrund eine geschwungene weiße sich auffächernde Linie abgebildet.

Vision und Konzept

Liquid Democracy ist ein Konzept zur Verflüssigung der starren Strukturen der repräsentativen Demokratie. Aber was bedeutet das genau? Liquid Democracy zielt auf drei wesentliche Verbesserungen des repräsentativen demokratischen Systems:

  1. Bürger*innen sollten sich jederzeit einbringen können, und nicht nur im Abstand von einigen Jahren bei Wahlen
  2. Es sollte möglich sein, als Bürger*in zu entscheiden, ob und in welcher Form ich an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben möchte
  3. Die Entwicklung von Lösungen und die Abstimmung darüber sollte allen Bürger*innen offen stehen, nicht nur Politiker*innen und organisierten Interessensvertreter*innen

Das Ziel von Liquid Democracy ist es also, mehr und flexiblere Beteiligungsmöglichkeiten für alle Bürger*innen zu schaffen. Liquid Democracy ist somit kein Staatskonzept, das die repräsentative Demokratie ersetzen soll. Es geht um die Erweiterung des Systems der repräsentativen Demokratie um mehr direkte Demokratie. Fünf Kernelemente sind nötig, um die starren Strukturen der Demokratie zu verflüssigen.

1 / Öffentlicher Diskurs

Politische Diskurse müssen so gestaltet werden, dass sich möglichst viele Menschen an ihnen beteiligen können. Diskussionen müssen gleichberechtigt im Sinne des deliberativen Ideals sein (mehr dazu hier). Die Moderation sollte die Diskussion aktivieren und strukturieren. Die Moderation wird der Diskussion nicht vorgeschaltet. Zentral ist der strukturierte Austausch von Meinungen und die gemeinsame Diskussion von Lösungswegen.


2 / Freie Wahl der Partizipationsstufe

Bürger*innen sollten eigenständig entscheiden können, zu welchem Thema sie sich auf welche Weise beteiligen möchten. Je nachdem welche Werte, Interessen und wieviel Zeit ein Mensch hat, kann er*sie sich zu einem Thema informieren, diskutieren, Vorschläge erarbeiten, eine*n Repräsentant*in für das Thema bestimmen, sich als Repräsentant*in zur Verfügung stellen oder selbst abstimmen.


3 / Dynamischer Wechsel zwischen Repräsentation und direkter Beteiligung

Durch das Internet wird es technisch und organisatorisch möglich, politische Abstimmungsprozesse themenbasiert stattfinden zu lassen anstatt die eigene Stimme nur im Abstand von einigen Jahren gebündelt für alle Themen an eine Partei oder Delegierte weiterzugeben. Zudem kann durch digitale Plattformen die dynamische Weitergabe einer Stimme umgesetzt werden, so dass Bürger*innen für jedes Thema selbst abstimmen, ihre Stimme delegieren können bzw. selbst als Delegierte*r zur Verfügung stehen können.


4 / Einbindung des zivilgesellschaftlichen Engagements

Liquid Democracy bietet neue Kanäle, mit denen das bereits in der Zivilgesellschaft vorhandene Engagement in den demokratischen Prozess eingebunden werden kann. Der Fokus auf themenbezogene Beteiligung unterstützt die Zivilgesellschaft dabei, ihre Expertise direkter einbringen zu können. Durch Liquid Democracy wird zudem die Öffnung der politischen Beteiligungsprozesse innerhalb von Organisationen für Nicht-Mitglieder möglich.


5 / Verknüpfung mit analoger Beteiligung

Liquid Democracy erweitert die bestehenden Verfahren der repräsentativen Demokratie. Deshalb müssen neben der Digitalisierung von politischen Entscheidungsprozessen digitale Schritte nahtlos mit den nicht-digitalen Beteiligungsschritten verbunden werden. Nur so können verschiedene Zielgruppen in politische Entscheidungsprozesse integriert werden und eine Transparenz über den ganzen Prozess gesichert werden.

Auf dem Bild sind die Kernelemente der Liquid Democracy als grafische Übersicht abgebildet, mit den Überschriften "Kernelemente" und "Umsetzung".
Kernelemente der Liquid Democracy als grafische Übersicht

Das Konzept von Liquid Democracy des Liquid Democracy e.V. beinhaltet im Vergleich zu Konzepten, die Anfang der 2000er-Jahre im Internet entwickelt wurden, mehr als nur die Verflüssigung von Wahl- und Abstimmungsprozessen durch Delegated Voting. Es geht um die Öffnung des gesamten Politikprozesses, von der Themensetzung (Agenda Setting) über die Entwicklung von Lösungen bis hin zur Abstimmung. Für uns als Liquid Democracy e.V. ist ein weiterer wichtiger Bestandteil des Konzepts aber auch die konkrete Umsetzung in der Praxis.


Umsetzung von Liquid Democracy

Für die Umsetzung von Liquid Democracy und ihrer Ziele sind das Internet und digitale Kommunikation zentral. Denn mit den richtigen digitalen Plattformen ist es zum ersten Mal möglich, demokratische Mitsprache für alle Menschen in einer Gesellschaft zugänglich zu machen und zu organisieren. Zur Umsetzung von Liquid Democracy in die Praxis sind zwei Aspekte sehr wichtig, die im Folgenden kurz erklärt werden.


Open-Source-Software

Die Umsetzung von neuen Formen des öffentlichen Diskurses im Sinne von Liquid Democracy braucht digitale Plattformen, die für alle zugänglich, nutzbar und in ihrer Funktionsweise nachvollziehbar sind. Um den hohen Anforderungen an die Transparenz und den gleichberechtigten Dialog auf den Plattformen gerecht zu werden, muss der Programmiercode der Plattform offen einsehbar, frei verwendbar und anpassbar sein (Open Source). In Deutschland gibt es zwei speziell für die Umsetzung von Liquid Democracy gebaute Software-Lösungen: Liquid Feedback des Interaktive Demokratie e.V. und Adhocracy, die Software von uns, dem Liquid Democracy e.V.


Anbindung an Gesellschaft und Politik

Neben den digitalen Elementen muss sich Liquid Democracy effektiv mit politischen Strukturen und gesellschaftlichen Prozessen verbinden, um eine Veränderung der Demokratie erreichen zu können. Dazu braucht es innovative Konzepte und Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft insbesondere in den klassischen Institutionen der repräsentativen Demokratie. Ein Konzept zur besseren Verbindung der parlamentarischen Prozesse mit direkter Mitbestimmung ist der „Direkte Parlamentarismus“, das vom Liquid Democracy e.V. 2009 entwickelt wurde (mehr dazu in diesem Video). Aber da Liquid Democracy kein Staatskonzept ist, sondern auf die Demokratisierung aller Lebensbereiche abzielt, müssen direktere Mitbestimmungsmöglichkeiten in alle Gesellschaftsbereiche vordringen, vor allem auch in Schulen, Parteien, NGOs und in unsere Arbeitswelt. An solchen Konzepten und praktischen Projekten arbeitet der Liquid Democracy e.V. seit seiner Gründung – zusammen mit vielen anderen Initiativen und Organisationen im Bereich digitale Demokratie.


Stand des Artikels: 23.2.2021

Quellen und Literatur

Eine Liste mit weiteren Links und Texten zur Vision und dem Konzept von Liquid Democracy findet ihr hier.

  • Adler, Anja. Liquid Democracy in Deutschland: Zur Zukunft digitaler politischer Entscheidungsfindung nach dem Niedergang der Piratenpartei. Transcript Verlag, 2018.
  • Ford, Bryan. “Delegative Democracy Revisited.” Bryan Ford's Home Page, 2014, bford.info/2014/11/16/deleg.html. zuletzt abgerufen: 16.2.2021.
  • Paetsch, Jennifer / Reichert, Daniel “Liquid Democracy: Neue Wege der politischen Partizipation.” Vorgänge 4 (2012): 15–22.
  • Paetsch, Jennifer / Reichert, Daniel. “Potenziale nutzen mit Liquid Democracy.” Digitale Politikvermittlung. Springer VS, Wiesbaden, 2015. 499–515.
  • Panek, Eva / Bolwin, Charlotte “Zukunftsweisende Entwicklung: Die Standardisierung von e-Partizipationsprozessen” Die digitale Öffentlichkeit. Wie das Internet unsere Demokratie verändert, Band II, 2015. 51–56.
  • Reichert, Daniel / Panek, Eva. “Alles ist im Fluss–die fließenden Ebenen einer Liquid Democracy.” Internet und Partizipation. Springer VS, Wiesbaden, 2014. 299-310.

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