Die französische Grand Débat National – Ein Vorbild in Sachen Bürger*innen Beteiligung?

Frankreich stellt mit der Grand Débat National ein landesweites Bürger*innenbeteiligungsverfahren auf die Beine, das sich gewaschen hat - und im Zentrum des Ganzen: Die Organisation Missions Publiques, welche bei der Grand Débat eine federführende Rolle innehatte. In ihrem Workshop gaben uns Antoine und Morgane von Missions Publiques Einblicke in den Arbeitsprozess hinter der Grand Débat und ließen uns diskutieren, ob auch Deutschland reif sei für eine eigene Große Nationale Debatte.

Missions Publiques stellt sich vor | CC-BY-SA 2.0

Politikverdrossenheit, Legitimitätskrise, Polarisierung – Schlagwörter, die in letzter Zeit immer häufiger durch die Gemäuer der etablierten Politik schallen. So auch in Frankreich, wo zuletzt die Gelbwestenbewegung (‚gilets jaunes‘) mobilisierte, um die neoliberale Wirtschaftspolitik des Präsidenten Emannuel Macron zu kritisieren und mehr Mitbestimmung im stark zentralisierten politischen System Frankreichs einzufordern. Genau diese bekam sie schließlich: Am 10. Dezember 2018 rief Macron die Grand Débat National aus, einen landesweiten Bürger*innendialog darüber, wie es mit Frankreich weiter gehen soll. Das Versprechen: Jede*r darf mitmachen, jede Stimme wird gehört.


Bewegung in der Gesellschaft

Die Grand Débat hat Bewegung in die französische Gesellschaft gebracht: Initiiert von Lokalpolitiker*innen, Gewerbeverbänden, Schulen und Gelbwesten fanden jeden Tag Bürger*innenversammlungen statt. Manchmal kamen 20, manchmal über 150 Personen, um über die Zukunft Frankreichs zu beraten. Zudem wurde über die Online-Plattform der Grand Débat mehrere tausend Beiträge eingereicht. Das Resultat: Ein 1500 Seiten langer Bericht, der klare Weisungsrichtungen für die französische Politik gibt.

Die Grand Débat National war ein neuartiges und groß angelegtes demokratisches Experiment. Vor welche Herausforderungen stellt so ein Experiment der direkten Bürger*innenbeteiligung die Organisator*innen? Und sind solche Formate auch in Deutschland denkbar? Um mit uns über diese Fragen zu diskutieren luden wir zur Jubiläumsfeier von Liquid Democracy Antoine und Morgane von der französischen Organisation Missions Publiques ein, welche maßgeblich an der Planung, Durchführung und Auswertung der Grand Débat beteiligt war.

Missions Publiques stellt sich vor | CC-BY-SA 2.0

Ein Rennen gegen die Zeit

Im ersten Teil des Workshops berichteten Antoine und Morgane über die organisatorischen Hintergründe der Grand Débat. Wie die beiden deutlich machten, war besonders der zeitliche Faktor eine große Herausforderung für Missions Publiques. Neue Verfahren wie die Grand Débat, die in Deutschland erst etliche bürokratische Hürden überwinden müssten, um dann sorgfältig in das Budget des nächsten Jahres eingepflegt zu werden, können in Frankreich durch die starke politische Zentralisierung in relativ kurzer Zeit beschlossen werden. Schnell beschlossen wurde die Grand Débat dann auch – und was darauf folgte war ein organisatorischer Marathon: Es mussten über 100 Informationsstände, vier nationale und 21 städtische Konferenzen organisiert und ausgewertet werden. Dazu kamen die Treffen von ungefähr 10000 lokalen Initiativen, und 27000 Briefe und Emails von Bürgerinnen und Bürgern, und das alles in wenigen Monaten. Bei der Auswertung dieser Masse von text-basierten Daten half Missions Publiques ihre eigens entwickelte Künstliche Intelligenz, welche die Forscher*innen dabei unterstützte, die Datenmengen zu kodieren und Stimmungsbilder der französischen Öffentlichkeit anzufertigen.


Eure Kultur, unsere Kultur

Der zweite Teil des Workshops drehte sich um die Frage: Ist eine Grand Débat auch in Deutschland möglich? Dafür teilten Antoine und Morgane die Teilnehmenden in vier kleinere Gruppen, die dann das Für und Wider einer großen Debatte in Deutschland, sowie mögliche Auslöser diskutieren sollten. Zudem durften sich die Teilnehmenden überlegen, was wir hierzulande anders machen würden, sollten wir auch ein nationales Bürger*innenbeteiligungsverfahren aufstellen wollen.

Zunächst kamen die Gruppen zu ähnlichen Schlüssen darüber, was eine große Debatte in Deutschland auslösen könne: Die französische Grand Débat wäre in erster Linie eine Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten, und protestieren könne man in Deutschland auch, so die Teilnehmenden. Besonders energie- und umweltpolitische Fragen, sowie Themen wie Immigration und Mietpreise haben in der Vergangenheit das Potential bewiesen, Massen an Deutschen quer durch alle Gesellschaftsschichten auf die Straße zu treiben, und der Politik Zugeständnisse zu entlocken. Es ist also möglich.

Andererseits haben Deutschland und Frankreich sehr unterschiedliche Protestkulturen, und wo französische Proteste oft damit enden, dass Barrikaden gebaut und nach der Revolution verlangt wird, verlaufen deutsche Proteste meist sehr viel weniger konfrontativ, wodurch markerschütternde Zugeständnisse wie die Grand Débat unwahrscheinlicher würden. Ein weiterer Punkt, der gegen eine deutsche Grand Débat spreche sei, so die Teilnehmenden, die Organisierungsform des deutschen Staates, welcher weitaus dezentraler aufgestellt ist als die Nachbarrepublik Frankreich. Besonders auf kommunalem Level sei man immer offener für direkte Bürger*innenbeteiligung, wodurch Meinungen und Perspektiven der Bürger*innen einfacher in die Politik einsickern.

Jetzt müssen die Teilnehmenden ran | CC-BY-SA 2.0

Eigene Wege gehen

Deutschland wird sich wohl nicht wie Frankreich mit großen Gesten vor dem Unmut der Bürger*innen retten müssen, doch auch hierzulande werden Stimmen gegen das ‚Establishment‘ lauter. Im Angesicht von AfD, PEGIDA & Co ist es die Aufgabe des deutschen Staates, alternative Formen der demokratischen Teilhabe zu schaffen, die Menschen das Gefühl geben, von der Politik gehört zu werden. Die Grand Débat war ein radikaler, und im französischen Kontext notwendiger Schritt. Auch die deutsche Regierung muss bei diesem Trend zu mehr direkter Bürger*innenbeteiligung mitziehen, denn sonst spielt sie Populisten in die Hände, die die Bevölkerung davon überzeugen wollen, dass die deutsche Politik ‚normalen‘ Bürger*innen verschlossen sei.

Letztlich wird sich zeigen, ob Deutschland eigene Wege findet, mehr direkte Bürger*innenbeteiligung auch auf nationaler Ebene zuzulassen. Die Zeit dafür wäre jedenfalls reif, und die Teilnehmenden des Workshops hatten bereits einige Ideen, wie sich das umsetzen ließe. Zum Beispiel: Mehr Vorlauf einplanen als bei der Grand Débat, um ein ähnliches Verfahren auch adäquat durchzuplanen, oder ein nationaler Beteiligungsfeiertag, damit auch alle mitdiskutieren können. Schreiben sie mit, Frau Merkel?