Europäische Demokratie - Chatten und Swipen für die politische Meinungsbildung

Reicht es uns, in Europa zu wählen? Oder wollen wir, als europäische Öffentlichkeit, mehr? Die Frage nach politischer Meinungsbildung auf transnationaler Ebene stellte sich in den letzten Wochen besonders, so kurz vor der Parlamentswahl der Europäischen Union. Da traf es sich gut, dass unsere 10 Jahres Feier von Liquid Democracy in den Mai fiel, und wir uns in einem Workshop mit dem Thema auseinandersetzen konnten. Dafür haben wir zwei Menschen eingeladen, die sich ehrenamtlich intensiv mit diesen Fragen beschäftigen, um ihre Projekte kennenzulernen.

Talking Europe und Vote&Vous im Workshop | CC-BY-SA 2.0

Talking Europe und Vote&Vous

Europa hat in den letzten Jahren einen Rechtsruck erlebt, und Populismus scheint den Kontinent zu spalten. Da steigt das Bewusstsein für die Relevanz von demokratischer Partizipation; das sieht man unter anderem an Kampagnen wie #diesmalwähleich. Allerdings geht es nicht nur um das Wählen selbst, sondern auch um den Prozess politischer Meinungsbildung und politischem Austausch innerhalb von Europa.

Talking Europe ist eine Plattform, die durch 1:1 Chats einen Austausch von Andersdenkenden in Europa ermöglichen will. Niklas Rakowski hat gemeinsam mit einigen Freunden Diskutier Mit Mir gegründet, eine App, die genau diese anonymen Chats über politische Themen ermöglicht. Talking Europe ist jetzt die neue Version für Europa. Um das zu bewältigen waren Partner*innen im EU Ausland gefragt, unter anderem Vote&Vous in Frankreich.

Von Vote&Vous war Benjamin Kurc dabei. Neben der Mitarbeit an Talking Europe beschäftigt sich Vote&Vous vorallem damit, einen „Wahl-o-mat“ für Frankreich zu kreieren. Auch für die Europawahl stand so ein Instrument für Frankreich zur Verfügung. Allerdings merkte Benjamin auch an, dass man an der späten Veröffentlichung der Wahlprogramme vor der EU Wahl in Frankreich auch ablesen kann, dass das anscheinend weniger Priorität war für französische Parteien als in anderen Ländern der Europäischen Union. Das Ziel von Vote&Vous generell: eine Plattform für politische Bildung in Frankreich und in Europa sein.


Was soll ich wählen?

Diese Frage kann auch ein Wahl-o-mat nicht für dich beantworten. Allerdings kann so ein Tool aufzeigen, mit welchen Parteien man am meisten Überschneidungspunkte hat, bezogen auf die wenigen Fragen, die dort abgefragt werden können. Benjamin klickte uns durch die Fragen auf france.votematch.net, die Plattform, die Vote&Vous für französische Bürger*innen bereitgestellt hat. Besonders die Seite mit den Resultaten rief Interesse in der Workshop Gruppe hervor. Man sieht, inwiefern die französischen Parteien Fragen ähnlich beantwortet haben, und kann sich deren ausführliche Antwort durchlesen. So weit, so bekannt. Allerdings kann man sich auch weiterklicken auf votematch.eu, und seine*ihre Antworten übernational vergleichen. Das funktioniert so: Während im ersten Schritt die Antworten mit den französischen Wahlprogrammen verglichen werden, wird auf der europäischen Plattform auch mit den Parteien anderer Länder verglichen.

Nur weil man beispielsweise in Frankreich die Sozialdemokraten wählt, heißt das noch lange nicht, dass man auch mit der deutschen SPD viele Überschneidungen hat. Solche Unterschiede können den Wähler*innen durch votematch.eu aufgezeigt werden. Vote&Vous sieht sich selber auch als Treiber für politische Bildung, und als Netzwerk. Nur durch die Partnerschaft mit Organisationen in zahlreichen EU Ländern konnte dieses Vergleichsinstrument entstehen, nämlich durch gemeinsame Fragen, durch die Wahlprogramme übernational verglichen werden können. Der französische „Wahl-o-mat“ lässt einen allerdings auch direkt zu Talking Europe weiterklicken.

Talking Europe und Vote&Vous im Workshop | CC-BY-SA 2.0

Chatten für die Demokratie

Talking Europe lässt uns direkt in den Austausch treten. Auf die Frage, warum nur eins zu eins, hat Niklas eine klare Antwort: Möglichkeiten für den Austausch zwischen vielen anonymen User*innen gäbe es überall im Internet, in anonymen Foren zum Beispiel, und das habe sich nicht bewährt. Trolle sind nur ein Beispiel dafür. Außerdem ist die Hoffnung von Talking Europe, dass Menschen im direkten Chat mit einer Person eher bereit sind, die Perspektive der*s anderen einzunehmen. Die Vermutung von Niklas und dem Team von Diskutier Mit Mir: es gibt keine Informationsfilterblasen. Das was wirklich fehlt, ist die Möglichkeit einfach mal nachzufragen. 


Bei Talking Europe werden kaum Daten erhoben. Es werden Fragen gestellt, um die grobe politische Ausrichtung festzustellen, aber sonst musst du keine Angaben machen. Und das Gespräch selber bezeichnet Niklas als „black box“: Niemand, außer den beiden Diskutierenden, kann lesen, was in dem Chat besprochen wird. Man muss sich nicht identifizieren, man muss keine Angaben über Alter, Geschlecht oder ähnliches machen. Das soll auch dazu beitragen, dass der Chat ein Vorurteilsfreier Raum bleibt, und es wirklich nur um die Diskussion geht.

Im Workshop haben wir auch fleißig das Tool getestet. Jede*r kann in ihrer*seiner Muttersprache chatten, es wird direkt übersetzt. Auch das soll es ermöglichen, dass möglichst viele Talking Europe nutzen können.


Austausch auf dem Digitalen Marktplatz

Die Verbindung, die am Ende von france.votematch.net, des „französischen Wahl-o-mats“, zu Talking Europe hergestellt wird, liegt nahe: Während man sich im ersten Schritt nur mit seinen eigenen Ansichten beschäftigt, kann man dann bei Talking Europe über diese Meinungen diskutieren. Abgesehen davon, dass das Interesse im Workshop groß war, die Plattformen auszuprobieren und in ihren Funktionsweisen zu begreifen, ging es in unserer Diskussion auch um die weitreichenden Ziele dieser Projekte: Es geht um politische Bildung einerseits, und demokratischen Austausch andererseits. Der Fokus liegt auf dem Prozess der politischen Meinungsbildung, da sind sich Niklas und Benjamin einig. Die Hoffnung ist, dass solche Tools, die einen zum Nachdenken anregen über Politik und Parteien, auch ein Anstoß sein könnte, zur Wahl zu gehen.

Zentral in unserer Diskussion war auch die Frage, wie man mit diesen Angeboten ein möglichst breites Publikum erreicht. Die Projekte sind spannend, sie ergeben Sinn im Kontext der Demokratieförderung, da waren wir uns einig. Aber können sie nicht nur wirklich wirken, wenn eine breite Masse der europäischen Öffentlichkeit mitmacht? Und wer ist die europäische Öffentlichkeit überhaupt? Ganz konkret stellte sich für Talking Europe die Herausforderung herauszufinden, wo man für die Plattform wirbt. Arbeitet man mit bestimmten Zeitungen zusammen, rekrutiert man nur eine bestimmte Gruppe, nämlich die Leserschaft dieser Zeitung. Auch bei sozialen Medien stellt sich die Frage von Filterblasen. Was sich laut Niklas als effektivste Lösung herausgestellt hat, ist die Einbindung in andere Webangebote. Gerade auf Browser Startseiten erreicht man die Masse. 

Am Ende bleibt die Frage wohl offen, und die Diskussion darum relevant: Wie schaffen wir es, dass Menschen die Möglichkeiten zum Austausch und zur Beteiligung nutzen? Wie wird Partizipation attraktiv? Talking Europe und Vote&Vous sind da ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.